GandhiServe-Archiv (englischsprachig)
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Als Mahatma Gandhi am 30. Januar 1948 erschossen wird, ist sein Leben bereits Legende. Der Mann, der als Mohandas Karamchand Gandhi am 2. Oktober 1869 in Porbandar, einer Küstenstadt des indischen Bundesstaats Gujarat, geboren wurde, hat der Welt gezeigt, dass soziale und politische Veränderungen nicht nur durch Gewalt und Terror, sondern auch durch Liebe und Mitleid erreicht werden können. In der indischen Kultur und den großen Religionen Hinduismus, Buddhismus und Jainismus gibt es die Tradition der Gewaltfreiheit (Ahimsa). Dazu gehören Toleranz gegenüber anderen Religionen und eine möglichst vegetarische Ernährung. Der Weg der Liebe zu Wahrheit (Satya) und Gewaltfreiheit bei Gandhi erklärt sich auch vor dem Hintergrund dieser kulturellen Tradition auf dem indischen Subkontinent.
In erster Linie versuchte Gandhi, seine eigenen Fehler und Schwächen zu erkennen und strebte so nach Selbstvervollkommnung. Auf diese Weise konnte er den Lebewesen und Schöpfungen der Natur mit großer Achtung und Demut begegnen. Er stritt und kämpfte für seine Überzeugungen und Ziele aber stets mit friedlichen und gewaltfreien Mitteln. Aber er erkämpfte nicht nur politische Rechte, sondern setzte sich besonders auch für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit ein.
Gottessuche, Gewaltfreiheit und Selbstkontrolle gehören bei Gandhi untrennbar zusammen und bilden eine ganzheitliche Lebensweise, die Gandhi mit dem Begriff Satyagraha – dem Festhalten an der Wahrheit – bezeichnet hat. In ihr sind Religion und Alltag, Denken und Handeln, Ziel und Mittel nicht getrennt. Das letztendliche Ziel menschlichen Strebens nach Wahrheit ist es, Gott zu finden und damit seine eigene Erlösung (Moksha) zu erlangen, d.h. den Austritt aus dem Kreislauf des Lebens (Samsara).
Gandhi entstammte einer gut situierten Familie, die – formal der Kaste der Kaufleute und Bauern (Vaishya) zugehörig – in politischen Diensten des Lokalfürsten stand. Seine Mutter war tief religiös und übte früh einen starken Einfluss auf ihn aus. Nach Abschluss seiner nicht sehr erfolgreichen Schulzeit machte er sich im Jahr 1888 nach London auf, um dort das Jurastudium aufzunehmen. Als Mitglied der Londoner Vegetarischen Gesellschaft und der Theosophischen Gesellschaft interessierte er sich stark für Fragen der Ernährung und Religion, nachdem seine zuweilen komisch anmutenden Bemühungen, seinen Lebensstil den üblichen Konventionen der britischen Oberschicht anzupassen, kläglich gescheitert waren.
Nach bestandenem Jura-Examen kehrte Gandhi im Juli 1891 nach Indien zurück. Seine Versuche, eine eigene Existenz als Rechtsanwalt in Bombay (heute Mumbai) aufzubauen, waren nicht von Erfolg gekrönt: seine Schüchternheit und Nervosität ließen ihn nicht zum rhetorischen Meister werden.
Über seinen Bruder Lakshmidas, ebenfalls Rechtsanwalt, erhielt Gandhi den Auftrag, einen juristischen Fall in Südafrika zu bearbeiten. Im April 1893 reiste er dorthin. Seinen ursprünglichen Plan, nur ein Jahr in Südafrika zu verbringen, ließ er angesichts der massiven Diskriminierungen, denen seine Landsleute dort ausgesetzt waren, bald fallen und blieb – von wenigen Auslandsreisen abgesehen – für weitere 21 Jahre in diesem Land.
In dieser Zeit kam er in Kontakt mit den Schriften Thoreaus, Ruskins und Tolstois, entwickelte und erprobte Schritt für Schritt Theorie und Praxis einer der Wahrheit und Gewaltfreiheit verpflichteten Lebensweise, die weit über die politische Sphäre hinausreicht. 1904 gründete er die Phoenix-Siedlung, eine Landkommune in der Nähe Durbans, die er sechs Jahre später zugunsten der größeren Tolstoi-Farm aufgab. In diesen Kommunen unternahmen die Mitglieder den Versuch, ein einfaches, autarkes Leben zu führen, in dem die Trennung von Hand- und Kopfarbeit aufgehoben war: Jeder musste durch seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen.
Bestimmende Figur der indischen Unabhängigkeitsbewegung
Bevor Gandhi mit seiner Familie Ende 1914 nach Indien zurückkehrte, wurde ihm bei einer Abschieds-Veranstaltung der Ehrentitel Mahatma (Grosse Seele) verliehen, den er stets ablehnte, da er nicht als "Staatsmann im Gewand eines Heiligen" gesehen werden wollte, sondern als Wahrheitssucher, der sich nicht scheut "die bittere Wahrheit auszusprechen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet". Fortan wurde er zur bestimmenden Figur der indischen Unabhängigkeitsbewegung, die erst durch ihn zu einer wirklichen Massenbewegung wurde.
Gandhi war gleichzeitig kompromissbereit und beharrlich, wenn es um die Bürger- und Menschenrechte ging. Gandhi führte Indien aus der kolonialen Abhängigkeit in die politische Unabhängigkeit. Seine bedeutendste Kampagne war zweifelsohne der Salzmarsch, bei dem er sich im März 1930, von 79 Mitstreiterinnen und Mitstreitern – so genannten Satyagrahis – begleitet, auf den 380 Kilometer langen Fußmarsch von Ahmedabad (heute Hauptstadt des Unions-Staates Gujarat) nach Dandi (nördlich von Mumbai) begab, um dort das Salz-Gesetz zu brechen, das es den Indern verbot, selbständig Salz herzustellen und zu verkaufen.
Unter Teilnahme der Weltöffentlichkeit erreichten die Satyagrahis gemeinsam mit mehreren hundert Mit-Wanderern am 5. April 1930 Dandi. Am folgenden Morgen hob Gandhi nach einem Morgenbad im Indischen Ozean eine Handvoll Salz vom Strand auf und löste damit eine landesweite Übertretung des Salz-Gesetzes aus, indem das "britische" Salz boykottiert und die Förderung, Verarbeitung und der Verkauf des "indischen" Salzes eingeführt wurde. Schließlich stimmen auch die Briten dem Verkauf des "indischen" Salzes zu und gestatten Gandhi, an der 2. Rundtisch-Konferenz in London teilzunehmen, die jedoch hinsichtlich der Unabhängigkeit Indiens ergebnislos verlief.
Da ein Aufflammen des Widerstandes zu erwarten war, wurde Gandhi am 4. Januar 1932 als gefährlicher Staatsfeind verhaftet und für unbestimmte Zeit in Pune inhaftiert. Insgesamt verbrachte Gandhi über acht Jahre in südafrikanischen und indischen Gefängnissen. Gandhi zog sich nach der Haftentlassung 1934 von der Parteipolitik zurück und widmete sich der Arbeit für die Unberührbaren und der Dorfentwicklung.
Nach einer weiteren Kampagne des "zivilen Ungehorsams" schickte das britische Kriegskabinett 1942 eine Delegation nach Indien, um über eine Unabhängigkeit nach dem Kriege zu diskutieren, deren Vorschläge jedoch von allen Parteien und Gruppierungen als nicht annehmbar zurückgewiesen wurden. In Gandhis Geist nahm die Quit-India-Kampagne (sinngemäß: Verlasst Indien) Gestalt an. Der Indische Nationalkongress (Indian National Congress, INC), dem Gandhi seit 1915 aktiv angehörte und dessen Präsident er 1924 war, hatte sich die vollständige Unabhängigkeit Indiens vom Britischen Imperium zum Ziel gesetzt.
Der Arbeitsausschuss des INC stimmte auf einer Sitzung am 7. August 1942 in Mumbai mit Gandhis Ansicht überein, dass Indiens Abhängigkeit von den Briten seine Verteidigung schwächte. Er verkündete, dass die britische Herrschaft in Indien nun endlich aufhören müsse. In einer langen Ansprache forderte Gandhi die Briten auf "Indien jetzt ordentlich zu verlassen" und gab für seine gewaltfreien Mitstreiter die Parole aus "Do or Die – Handle oder Stirb".
Trotz Pressezensur verbreitete sich dieses Motto wie ein Lauffeuer und es kam überall im Land zu Revolten. Die INC-Ausschüsse wurden für illegal erklärt und deren Mitglieder inhaftiert. Gandhi, seine Frau Kasturba, sein Sekretär Mahadev Desai und seine englische Mitarbeiterin Madeleine Slade, die von Gandhi den Namen Mirabehn erhalten hatte, wurden ebenfalls verhaftet und ohne Gerichtsverfahren in Pune inhaftiert. Während der fast zweijährigen Haft starben Mahadev Desai und auch Kasturba. Gandhi reagierte auf den Tod seiner Lebenspartnerin mit den Worten: "Ich kann mir ein Leben ohne Ba nicht vorstellen."
Im März 1946 landete eine britische Regierungsdelegation in Indien, um die Bedingungen der Machtübergabe auszuhandeln. Die von ihr gemachten Vorschläge fanden zwar die Zustimmung des INC, jedoch nicht der Muslim-Liga. Deren Präsident, Mohammed Ali Jinnah, rief zu einem "Tag der direkten Aktion" auf, ohne das Ziel oder den Inhalt der Aktion näher zu bestimmen. In Kalkutta kam es daraufhin zu einer Orgie der Gewalt: Über 4.000 Hindus wurden getötet und mehr als 15.000 verletzt. Durch Rache-Aktionen der Hindus war bald das ganze Land in die Unruhen einbezogen, die sich zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen mit Massenmorden, Brandstiftungen, Vergewaltigungen, Plünderungen und religiösen Schandtaten ausweiteten.
Gandhi fuhr daraufhin in die am stärksten betroffenen Gebiete und konnte durch eine Fasten-Aktion Hindus und Muslime dazu bewegen, die Waffen niederzulegen. Auf einem mehrmonatigen Fußmarsch bemühte sich Gandhi, Frieden zu stiften und zu versöhnen. Er bezeichnete diese Friedensmission als die schwierigste seines Lebens. Unermüdlich war er unterwegs, tröstete und ermutigte die Verzweifelten und ermahnte jene, die den verheerenden Schaden angerichtet hatten. Er bat sie, für die Sünden zu büßen, und forderte dazu auf, das Zerstörte wieder aufzubauen und wie eine Familie zusammenzuleben.
Gandhi erreichte, dass sich die Gemüter im Land beruhigten. Die anstehende Teilung Indiens in ein muslimisches Pakistan und ein hinduistisches Indien bereiteten ihm aber tiefe Sorgen, da er es als sein Lebenswerk ansah, Indien geeint in die Unabhängigkeit zu führen. Die Kluft zwischen Hindus und Muslimen war aber zu groß. Selbst seine engen Parteifreunde waren letztlich mit dem Vorschlag des neuen britischen Vizekönigs Lord Mountbatten einverstanden, das Land zu teilen. Gandhi bezeichnete diese Entscheidung als eine geistige Tragödie.
Einfache Lebensweise und Besinnung auf elementare Bedürfnisse
Indien errang unter dramatischen Umständen am 15. August 1947 die Unabhängigkeit, die gleichzeitig die Teilung des Subkontinents in die zwei Staaten Pakistan und Indien besiegelte. Neben der Erkämpfung der politischen Rechte setzte Gandhi sich besonders für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit ein. Sein eigentliches Betätigungsfeld sah er in einer spezifischen Form der dörflichen Sozialarbeit, die den Dienst am Mitmenschen in den Mittelpunkt stellt. Hierfür prägte er den Begriff Sarvodaya, der die "Wohlfahrt aller" bezeichnet. Nach Ansicht Gandhis bildet der selbstlose Dienst an den Ärmsten im indischen Dorf die alleinige Grundlage, auf der ein wirklich freies Indien gedeihen kann.
Das selbstgenügsame Dorf, das autonom seine Angelegenheiten regelt, bietet die Gewähr, auch dem Letzten seinen Anteil zu geben, den er für ein einfaches, im Dienst der Wahrheitssuche stehendes Leben benötigt. Gandhi hat stets ein Leben mit körperlicher Arbeit bevorzugt und gesagt, dass das Leben des Ackerbauern und Handwerkers das eigentlich gute Leben ist. Jeder solle durch seiner eigenen Hände Arbeit seinen persönlichen Lebensunterhalt bestreiten. Brotarbeit verzichtet auf die Ausbeutung anderer, sie ist eine Form gewaltfreien Wirtschaftens und steht in Einklang mit Swadeshi, dem Entwurf einer wirtschaftlichen Autarkie, die durch Eigenproduktion erreicht werden sollte und verbunden ist mit der Forderung nach Besitzlosigkeit sowie der Besinnung auf elementare Bedürfnisse und eine einfache Lebensweise.
Gandhi wandte sich scharf gegen die Unberührbarkeit und gab den Unberührbaren den Namen Harijans, Kinder Gottes. Für ihn war die politische Freiheit Indiens Folge der persönlichen Freiheit (Swaraj) des Einzelnen, die eingebunden ist in das dauernde Streben nach Wahrheit. Gefragt, was er als Essenz seines Denkens und Handelns ansieht, antwortete Gandhi: "Mein Leben ist meine Botschaft" (My life is my message). Nicht neue Denkmodelle brauche die Welt, um besser zu werden, sondern die überall praktizierte Nächstenliebe und Wahrheitssuche jedes einzelnen Menschen. Jeder beginne ernsthaft bei sich selbst, seine eigenen Experimente mit der Wahrheit durchzuführen, hier und heute, überall und ohne Ende.
Gandhi hielt als geistiger Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung die Welt seiner Zeit in Atem, was durch die Wochenschauen eindrucksvoll belegt wird. Nach seiner Ermordung durch einen Hindu-Fundamentalisten am 30. Januar 1948 wurde er zum Märtyrer und Mythos stilisiert. Sein politisches Handeln gab den unterdrückten Kolonialvölkern der "Dritten Welt" ein Gesicht, seine Philosophie und sein Handeln zeigen der Welt bis heute eine Alternative zu Krieg und Gewalt.
Gandhis geistiges Erbe lebendiger als je zuvor
Auch in Indien gibt es eine wachsende Zahl Bürgerbewegungen und sozialer Aktionsgruppen, die sich, auf Gandhis Ideen basierend, für die Rechte der Armen und Minderheiten einsetzen, auch wenn nicht das einfache Spinnrad – Gandhis Symbol der wirtschaftlichen Unabhängigkeit – sondern vielmehr Auto, Mobiltelefon und Computer Freiheit und Fortschritt im heutigen Indien symbolisieren. Erreichbar sind diese Luxus- und Konsumgüter allerdings nur für eine kleine, städtische Schicht. Der größte Teil der Bevölkerung hingegen, vor allem auf dem Land, fühlt sich durch zunehmende Kommerzialisierung und wachsenden Wettbewerb immer mehr unter Druck gesetzt und weiter in die Armut getrieben.
Im Kampf gegen den neoliberalen Wirtschaftskurs soll nun die Rückbesinnung auf Gandhis Ideale helfen. So spricht die indische Bürgerrechtlerin Medha Patkar, Symbolfigur des Widerstandes gegen das umstrittene Narmada-Staudammprojekt vielen aus der Seele, wenn sie zum Umdenken in der Gesellschaft auffordert: "Wir müssen unseren Lebensstil grundsätzlich unter den Gesichtspunkten von Schlichtheit, Selbstgenügsamkeit, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit überprüfen. Genau das hat uns Mahatma Gandhi gelehrt, als er seinen großen politischen Kampf führte."
Wenn man sich den Einfluss Gandhis auf Menschenrechtsbewegungen weltweit anschaut, dann sieht man, dass Gandhis Ideen hochaktuell sind, und, auf die jeweiligen Rahmenbedingungen bezogen, sehr erfolgreich angewandt werden. Wenn man sich verdeutlicht, wie viele Gestalter des 20. Jahrhunderts sich als Schüler Gandhis bezeichnen, wird klar, dass sein humanistisches Konzept der Fernstenliebe – nicht der Opponent wird bekämpft, sondern dessen Gesinnung – und Gewaltfreiheit die Menschheit geprägt hat, wie kaum ein anderer. Martin Luther King Jr., Nelson Mandela, der Dalai Lama, Albert Schweitzer, Mutter Teresa, Michael Gorbatschow, Lech Walensa, Aung San Suu Kyi und viele andere haben Gandhi und seine Ideen studiert und diese in ihrem Einsatz für eine bessere Welt angewandt. Nicht nur deshalb ist sein geistiges Erbe heute lebendiger als je zuvor.